Ungarndeutsche in der weiten Welt (1) – Integrationshelferin Maria Macher

Von Richard Guth

Ich bin an diesem Juni-Abend mit Maria Macher verabredet – in Nord-Neukölln. Schnell noch ein Besuch im Trendviertel Prenzlauer Berg, der noch vor einigen Jahren ein Bild Grau in Grau abgab, wie vor der Wende fast der gesamte Ostteil der Stadt! Nach der Wende gewann dieser Kiez schnell an Popularität, viele Familien zogen ins Viertel unweit der Stadtmitte. Heute empfangen herausgeputzte Mietshäuser, bunte Läden und – trotz COVID 19 – eine Menschenmenge, darunter auffallend viele Kinder, den Besucher. Genauso bunt präsentiert sich der West-Stadtteil Neukölln, aber bezüglich der Herkunft der Bewohner wies der Stadtteil mit unterschiedlichen Kiezen 2016 einen Anteil von 43,9 % an Menschen mit Migrationshintergrund auf; dieser Anteil ist in den letzten vier Jahren sicher noch gestiegen. Neukölln als achter Stadtbezirk (und Nord-Neukölln im Besonderen) gilt als Problembezirk (wobei sich dieser Stadtbezirk aus Vierteln mit ganz unterschiedlichen soziokulturellen Strukturen zusammensetzt): Überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit, beengte Wohnverhältnisse und unterschiedlicher Bildungsstand der Bewohner sorgen für Herausforderungen, die der legendäre SPD-Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowski in den Medien offen thematisiert hat. Vielversprechend ist die Tatsache, dass sich von 35 Berliner Quartiersmanagementgebieten 11 in Neukölln befinden, darunter 10 im Norden Neuköllns, wo lediglich 4 % der Berliner Bevölkerung leben.

Und hier beginnt eigentlich die Geschichte der Ungarndeutschen Maria Macher, die aus dem kleinen Dorf Saar im Komitat Komorn-Gran stammt. Sie kam 1989 nach Berlin, besser gesagt nach Westberlin, besuchte einen Deutschkurs in Neukölln und studierte  Erziehungswissenschaften. Neben dem Studium jobbte sie nach eigenen Angaben unter anderem in Kitas – hier kam es zu den ersten Begegnungen mit den türkischen und arabischen Einwohnern des Stadtteils. Ihr Interesse war so groß, dass sie anfing Türkisch zu lernen, was eine Sprache sei, die ähnlich klinge wie Ungarisch. Sie schaltete sich in die Familienhilfe ein und betreute fortan türkische und kurdische Familien.

Ein nächster Lebensabschnitt begann für sie 2003 mit dem Eintritt in die Diakonie, einer Einrichtung der Evangelischen Kirche. 2004 begann die Qualifizierung der ersten Frauen, das Projekt „Stadtteilmütter in Neukölln” war damit geboren. Die ersten Ausbildungsgänge richteten sich an türkische beziehungsweise türkischstämmige Frauen und waren nach Angaben der Projektmanagerin türkischsprachig. Später kamen anderssprachige Menschen dazu, so dass die Qualifizierungen nun in deutscher Sprache erfolgen.

Die Qualifizierung dauert sechs Monate: In dieser Zeit sollen die Frauen in die Lage versetzt werden, im Nachhinein Hausbesuche zu unternehmen, stets von der Diakonie begleitet, in 30 Stunden pro Woche. Pro Tag soll ein Hausbesuch absolviert werden und darüber hinaus bieten die Stadtteilmütter einmal pro Woche Beratung, Elternabende oder Thementische an Kindertageseinrichtungen und Schulen an. Jede Woche finden Teamsitzungen und zu unterschiedlichen Zeiten dreistündige Fortbildungen statt. Darüber hinaus kommen die Frauen einmal pro Woche für zwei Stunden vorbei, um Koffer zu packen, das heißt: Material für ihre Hausbesuche zusammenzusuchen. Die hundert Stadtteilmütter kommen in Zehnerschichten – Corona sorgte aber auch hier für Veränderungen, denn um den Mindestabstand einzuhalten, halten sich nur sieben Frauen gleichzeitig im Sammlungsraum auf.

Die Interessenten erhielten zuerst einen befristeten Fünf-Jahresvertrag, finanziert vom Jobcenter, denn „sie müssen zuerst ans Arbeiten herangeführt werden”, so Macher. Einen festen Vertrag würden die Mütter nach dieser Kennenlernphase bekommen, mit einem monatlichen Bruttoverdienst von 1800 Euro (630.000 Forint). „Es gibt aber auch schon die ersten, die von uns in die Rente gegangen sind”, erzählt Maria Macher und berichtet von sehr positiven Erfahrungen. Sie könne dabei den Weg und Werdegang der Stadtteilmütter verfolgen – positiv dabei sei es, dass die Kinder der qualifizierten Frauen fast ausnahmslos studiert hätten. Dieser Job würde für sie oft auch einen Emanzipationsprozess bedeuten, den sie durchmachen. Unter denen hingegen, die aufgehört haben (400 von 500 Qualifizierten) gebe es viele, die nur in prekären Beschäftigungsverhältnissen untergekommen seien.

Im Laufe der Zeit seien immer neue Familien mit Betreuungsbedarf hinzugekommen – extrem sei es 2015 inmitten der Flüchtlingskrise gewesen: „Es galt dabei existentielle Nöte aufzufangen: Kita-Besuch, Wohnen, Essen.” Jetzt, fünf Jahre danach, würde man sich mit Themen wie Feinmotorik bei Kindern oder gesunde Ernährung beschäftigen. Aber nicht nur als Hilfeempfänger tauchten Menschen aus der Zuwanderergruppe der Flüchtlingskrise auf, sondern auch als Helfer: Es gebe einige Stadtteilmütter, die aus solchen Familien kommen. Hilfe sei jederzeit nötig, denn viele würden sich im System nicht auskennen.

Dabei gebe es viele Lösungswege und „was in Neukölln gut klappt, ist die Vernetzung”, erzählt die Integrationshelferin. Staatsanwaltschaft, Polizei, Kitas, Schulen, Sozialarbeiter und Quartiersmanagement würden Hand in Hand arbeiten. Dieses Modell wurde als Neuköllner Modell in der ganzen Republik bekannt. Dabei gälten die Stadtteilmütter als „Expertinnen”, die geladen und gehört würden.

Der Ungarndeutschen ist durchaus bewusst, dass „wir keine Lösung für alle Probleme sind”, zumal die Angebote auf Freiwilligkeit beruhen. „Deswegen kommen wir oft nicht an Familien heran, die kriminell sind oder ihre Kinder vernachlässigen oder gar misshandeln.” Nichtsdestotrotz würde man dank der Heterogenität der Gruppe der Stadtteilmütter unterschiedliche Gruppen erreichen, meist im Umfeld der Stadtteilmütter selbst. Vor einigen Jahren wäre der Wegzug von Bildungsorientierten charakteristisch gewesen, heute habe man eine Trendwende vollzogen: Heute seien die Schulen wieder gemischter, ethnisch wie sozial. 98 % der Kinder würden gerne eine Kita besuchen, was aber oft ein Wunsch bliebe: Denn es fehle an Plätzen aufgrund von Personalmangel. Auch der Kiez hätte sein Gesicht verändert: Wo früher Türken dominierten, lebten heute Menschen aus arabischen Ländern, Polen, Rumänien oder Bulgarien.

Die Fünfzigjährige, die mit einem Türken verheiratet ist und zwei dreisprachige Kinder hat („Gegensätze ziehen sich an”), fand nach eigenen Angaben schnell Anschluss in Neukölln, was sie darauf zurückführt, dass  „ich von meiner Familie geprägt wurde, die sehr offen war.” Ihre erste Wohnung in Kreuzberg fand sie nach eigenen Angaben sehr spannend. Sie fühlte sich von Anfang an den Türken sehr nahe, nicht zuletzt wegen der Sprache, die ähnlich wie Ungarisch klinge. Und auch in Saar hätten die Frauen Kopftuch getragen, schmunzelt sie.

Maria Macher ist deutsche Staatsbürgerin, was nach eigenem Bekunden eine bewusste Entscheidung gewesen sei: „Ich bin Deutsche, aber auch Ungarin und Ungarndeutsche, das eine schließt das andere für mich nicht aus.” Auch aus der Ferne verfolgt sie die Entwicklung in Ungarn und das Schicksal der Ungarndeutschen. Nach ihrem Eindruck hätten im Moment alle Minderheiten einen schweren Stand in Ungarn, aber es freue sie, dass viele Jugendliche eine Nähe zu ihren Wurzeln gefunden hätten.

Folgen Sie uns in den sozialen Medien!

Spende

Um unsere Qualitätsarbeit ohne finanzielle Schwierigkeiten weitermachen zu können bitten wir um Ihre Hilfe!
Schon mit einer kleinen Spende können Sie uns viel helfen.

Beitrag teilen:​
Geben Sie ein Suchbegriff ein, um Ergebnisse zu finden.

Newsletter

Möchten Sie keine unserer neuen Artikel verpassen?
Abonnieren Sie jetzt!