Unseraans

Von Georg Sawa

Was man ist, was man zu seiner Identität macht, bestimmt man selbst und man spricht sich dann innerhalb einer Gesellschaft oder einer Nation irgendeiner mathematischen Menge zu. Oder wird man von den Anderen einer Menge zugewiesen, denn das Urteil über einen Menschen wird nicht nur von einem selbst geprägt, sondern es kommt – wie es die Geschichte der Menschheit zeigt – oft auch von außen. Gemäß des Nationalcharakters. Johann Wolfgang von Goethe sagte über die Gründe der Herausbildung von jenen Merkmalen, die dazu beitragen, uns von anderen Völkern und Volksgruppen zu unterscheiden: „So viel ist gewiß, daß außer dem Angeborenen der Rasse sowohl Boden und Klima als Nahrung und Beschäftigung einwirkt, um den Charakter eines Volkes zu vollenden. Auch ist zu bedenken, daß die frühesten Stämme meistenteils von einem Boden Besitz nahmen, wo es ihnen gefiel und wo also die Gegend mit dem angeborenen Charakter der Menschen bereits in Harmonie stand.” Das „Angeborene der Rasse…” sind heute wohl Worte, die man nicht so gerne zitiert, jedenfalls kann man es nicht leugnen, dass es Unterschiede im Volkscharakter gibt, die sich während unzähliger Generationen entwickelt und verfeinert haben. Als eine Ursache der Unterschiede würde ich auch den Sprachgebrauch betrachten. Nicht deshalb, weil wir um Fremdsprachen zu verstehen, Sprachkenntnis oder einen Translator brauchen, sondern weil alleine die grammatische Struktur, die Logik – aber auch der Klang – jener Sprache, die man als seine Muttersprache beherrscht und spricht, seinen Stempel ins Denken und ins Gemüt von einem drücken, und dadurch zum Gesamtbild des Nationalcharakters, zum Erscheinungsbild des Betroffenen in einer Gesellschaft beitragen. Nicht weniger, sondern noch viel mehr treten diese Merkmale in den Augenschein, wenn man einer Volksgruppe angehört, die im Rahmen einer dominierenden Mehrheit lebt.

Was Goethe in diesem Zitat noch hervorhebt, sind: Boden, Klima, Nahrung und Beschäftigung, die auf den Charakter eines Menschen einwirken sollen. „Du bist, was du isst” können wir mit dem Sprichwort sagen – und dadurch ergänzen, dass das Tun und Handeln einen ebenfalls bedeutend prägen. Die in Ungarn ankommenden Siedler des beginnenden 18. Jahrhunderts haben unter den für sie neuen klimatischen und hygienischen Verhältnissen hart zu kämpfen und zu leiden gehabt. Diese brachten vielen von ihnen den recht frühen und schnellen Tod. Typhus, Cholera, Fieberkrankheiten, ja selbst die Pest, waren in diesem Teil von Europa noch bis zu anderthalb Jahrhunderte später allgegenwärtig. Kein Wunder, wenn der Fürstabt von Fulda, Konstantin von Buttlar, bereits 1718, wo die Auswanderung nach Ungarn in ihren großen Wellen noch nicht einmal begann, in einer Verfügung festhielt: „Untertanen, die aus Hungarn zurückgekehrt sind, haben uns hinterbracht, daß, obwohl die Leibeigenschaft dortselbst eingeführt ist, doch kein Deutscher dort leben kann. … Deshalb sind alle zu warnen, daß jeder es wohl bedenken und nicht unüberlegt handeln möge.” Trotzdem haben sich dann große Mengen – wohl nicht aus Abenteuerlust, sondern in der Hoffnung, sich im Fremden mehr zurechtzufinden, als in ihrer Heimat – auf den Weg gemacht, um im „Königreich Hungern” ein neues Zuhause zu erschaffen.

Der Geograph und Volkskundler, Johann von Csaplovics, schreibt in seinem 1829 erschienenen Buch Gemälde von Ungarn: „Der Guckguck schmuggelt seine Eier überall in fremde Nester hinein, das Murmelthier schläft überall den Winter durch. Nur der Mensch allein bietet tausendfache Variationen in allen seinen Beschäftigungen, in seiner Lebens- und Denkweise dar, je nachdem das Klima, die Religion, die Regierungsform, die Nahrung, die Nachbarschaft auf ihn wirken. … Wie die Erdlagen in unserem Boden, so folgen in unserm Welttheile Völkerlagen aufeinander; zwar oft durcheinander geworfen, in ihrer Urlage indessen noch kenntlich. Die Forscher ihrer Sitten und Sprachen haben die Zeit zu benutzen, in der sie sich noch unterscheiden, denn alles neigt sich in Europa zur allmähligen Auslöschung der National-Charaktere.”

Diese Neigung zur allmähligen Auslöschung zeigt sich bis zum heutigen Tag – Reste gibt es aber bis jetzt von den „Völkerlagen”, die in Ungarn aufeinandertrafen und ein einmaliges geistiges, kulturelles und religiöses Mikroklima geschaffen haben. Das Zusammenleben zwischen den einzelnen Volksgruppen ist nicht immer reibungslos verlaufen, während Jahrzehnte und Jahrhunderte hat es aber geklappt, sich, wo nötig, einander anzupassen. Man hat es gelernt, ähnlich zu sein – aber auch abzuweichen; und dies gegenseitig zu respektieren. Wie ich jetzt überlege, ist das vielleicht wichtigste Wort der Selbstdefinition der von mir noch erlebten Vorfahren „unseraans” gewesen. Unseraans macht es halt so oder anders. Unseraans (unsereiner) ist quasi ein Wort für ’wir’. Leider hat dieses Wir nur bis zur Gemarkung der Nachbardörfer gereicht. Diese waren nämlich schon „anen Leit”, andere Leute, die „net unseraans”, nicht jemand von uns sind. Das Schlimme – bis zu unserer heutigen Konsequenz unseres bereits skanzenreifes Scheindaseins der Deutschen in Ungarn ist, dass unser Unseraans lokale Grenzen kaum in regionale (geschweige denn landesweite) ausweiten konnte. Die Hügel begrenzten die Ackerfurche, die Bäche markierten den Zutritt ins Fremde. Unseraans lebte auf engem Raum – Fremde erkannte man bereits am Zipfel des Kopftuchs. Unterschiede blieben wohl wichtiger als die sprachlich- kulturelle-, ja auch religiöse Gemeinsamkeit.

Was ich merke, ist, dass die Idee vom „Unseraans” bis heute nachwirkt, nur schaut man da nicht mehr auf die Kopftücher. Nicht viel besser, aber unseraans trennt sich heutzutage von anderen Mitgliedern seiner Volksgruppe, entlang ideologischer „Ackerfurchen”. Dabei muss eine Volksgruppe die Stärke aufbringen, nicht durch – in historischen Maßstäben gemessen – eigentlich banale, als Momentaufnahme geltende Unterschiede von – sagen wir – Parteisympathie das „Unseraans” zu definieren. Mein „Unseraans” will heißen: Ich bin einer von euch, Deutsche in Ungarn, die ihr meine Sprache noch versteht entlang und drüber aller Hügel und Bäche in aller Welt!

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