Mit dem Schulbus ziehen sie aus Ungarn aus

Von Ádám Kolozsi, erschienen am 21. 05. 2019 auf dem Portal index.hu. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Nicht nur die Erwachsenen pendeln täglich nach Österreich: Immer mehr Familien in der Grenzregion schicken ihre Kinder auf Schulen jenseits der Grenze. Die Schulen im Burgenland werben in ungarischen Zeitungen. In Folge dessen können die Eltern viel einfacher aus dem ungarischen staatlichen Schulsystem aussteigen als andere. Kostenloser Spracherwerb? Wie kann man den Sohnemann an einer ausländischen Schule anmelden, in welcher Jahrgangsstufe ist ein Wechsel sinnvoll? Und wieviel kostet es?

Levente startet jeden Morgen um halb sieben, um von Sárvár zuerst mit dem Überlandbus nach Steinamanger zu fahren und dann mit dem Schulbus weiterzufahren. Kindern aus anderen Regionen des Landes könnte es komisch vorkommen, dass die Kinder hier an jedem Schultag zweimal die Grenze passieren: Um acht Uhr sitzen sie bereits in österreichischen Schulbänken. An der Grenze zu Österreich ist das aber ein gewohntes Bild: Allein aus Steinamanger befördern täglich drei Sonderfahrten die ungarischen Kinder nach Oberwart und in noch ein paar andere, nahe gelegene burgenländische Gemeinden.

Die deutschen Gedächtnisübungen waren anfangs schwer, aber man gewöhnt sich daran. Die Atmosphäre an der Schule ist viel besser dort”, erzählt die Familie von Levente. Der Junge aus dem Jahrgang 6 kommt um halb sechs abends nach Hause, danach stehen Solfeggio und Trompetenunterricht auf dem Programm, trotzdem geht er gerne auf die österreichische Schule. Seine Mutter sagt: So lächelt er immer noch viel mehr als die Kinder, die im ungarischen Schulsystem gegängelt werden.” Die Familie stellt sich bereits in Österreich die Zukunft des Kindes vor: Levente soll nach der Volksschule eine musikalische Richtung einschlagen, aber auf jeden Fall in Österreich.

Etwa 2000 Kinder aus Ungarn könnten in Österreich zur Schule gehen. Genaue Angaben findet man keine, da keine solchen Statistiken existieren, aber man kann aus den burgenländischen Statistiken Rückschlüsse ziehen. Der Großteil dieser ungarischen Kinder pendelt: Es gibt welche, die eine österreichische Meldeadresse haben (warum es sinnvoll ist, dazu später mehr), bei einem Teil ist Ungarn aber noch der Mittelpunkt des Lebensinteresses. Das so genannte schulische Pendeln (ung. tanulási ingázás) ist in der Umgebung von Steinamanger besonders bestimmend: Die Grenze liegt wenige Minuten entfernt und in Österreich gibt es viele kleine Gemeinden, für die es wichtig ist, dass die Volksschule erhalten bleibt. Die neu eingeschulten ungarischen Schüler kommen da gelegen.

Es gibt sehr viele solche Familien, die den Entschluss fassen, ihre Kinder nicht auf eine Schule in Ungarn zu schicken, sondern in Österreich. Anfangs meinte ich den Charakter einer Modeerscheinung erkannt zu haben, aber dann bin ich auf der Straße und in meinem Bekanntenkreis immer mehr Leuten aus diesen Familien begegnet und ich war interessiert an ihren Erfahrungen”, sagt Judit Buchwald-Langer, Hochschuloberassistentin an der Fakultät für Pädagogik und Psychologie der Loránt-Eötvös-Universität in Steinamanger (ELTE PPK). Die Bildungsforscherin hat über das Phänomen eine Monographie verfasst – ihre Forschungsergebnisse zeigen, dass das Hauptmotiv der ungarischen Eltern der Spracherwerb ist.

Sie sind mit dem Niveau des ungarischen Fremdsprachenunterrichts sehr unzufrieden und sehen, dass selbst Kinder, die einen Fremdsprachenklassenzug besuchen, kaum bereit sind, die Sprache aktiv zu benutzen. Die Eltern bringen deswegen die Kinder in einem muttersprachlichen Milieu unter, wo sie sich neben Hochdeutsch auch den lokalen Dialekt aneignen und darüber hinaus scheint in Österreich auch der Englisch-Fremdsprachenunterricht effektiver zu sein. Das ferne Ziel scheint zu sein, dass das Kind dort eine Arbeit findet – mit perfekten Sprachkenntnissen, dortigem Abschluss und dortiger Berufsausbildung.

Hier ist der Fremdsprachenunterricht effektiver. In Ungarn ist der Unterricht der math.-naturwissenschaftlichen Fächer stärker, aber ich glaube, später werden meine Kinder nicht davon profitieren, sondern von ihren Fremdsprachenkenntnissen”, so einer der interviewten Elternteile zu Judit Buchwald.

Weniger Stoff, weniger Stress

Die PISA-Ergebnisse der österreichischen Kinder sind besser als die der ungarischen, wohlgemerkt ist der Unterschied nicht gewaltig. Nach der Meinung ihrer Befürworter zeichnet sich die österreichische Schule durch weniger lexikalisches Wissen, eine viel praxisorientiertere Ausbildung, innovativere pädagogische Methoden und mehr kinderorientierte Lehrer aus und erzieht außerdem zum Leben, mit einem starken Fremdsprachenunterricht. Die ungarischen Eltern betrachten die geringere Erwartung an lexikalisches Wissen auch nicht als Nachteil, sondern betonen, dass man nicht so viel Unnützes lerne wie im ungarischen Schulsystem.

Dort gibt es dieses Verkrampfte nicht, nichts, weswegen sich das Kind unter Druck setzen würde. Es gibt keine unangekündigten Tests. Die Arbeiten werden rechtzeitig angekündigt und eingetragen und wir leben unser Leben seelenruhig. Es interessiert nicht das, was du nicht kannst, sondern was du kannst”, berichtete ein Elternteil über seine Erfahrungen.

Von den drei Kindern von Andrea gehen zwei in Österreich zur Schule. Zu Hause haben sie zuerst eine deutsche Nationalitätenschule ausprobiert, aber mit ihr waren sie nicht glücklich, in der Jahrgangsstufe 6 hat der Junge das Jahr in Österreich wiederholt. „Obwohl er in Ungarn eine deutschsprachige Schule besucht hat, sagte er in Österreich in den ersten drei Monaten kein Wort. Aber er sog die Sprache auf wie ein Schwamm.” Andrea hat die Erfahrung gemacht, dass man an der österreichischen Schule für alles Zeit und keine 500 Seiten lange Bücher hat, jeder kann nach seinem eigenen Tempo arbeiten. Ihr gefiel es nach eigenen Angaben auch, dass man die Umweltkunde- und Biologiestunden oft draußen in der Natur hält und es viele thematische Tage und Projektarbeit gibt.

Sie lernen nicht so viel Unsinniges und stressfrei.”

Ihre Kinder setzten ihre schulische Karriere auch nach der Volksschule in Österreich fort: Der Junge lernt BWL in Wien, das Mädchen in Graz Übersetzen-Dolmetschen. Ihrer Ansicht nach werden sie ganz bestimmt in Österreich arbeiten. Andrea sagt, dass sie sie auch nicht mehr heimlassen würde, wenn es auf sie ankäme.

Die Eltern stellen sich in der Regel die ganze schulische Karriere ihres Kindes in Österreich vor. Anfangs ist es noch häufig so, dass das Kind zu Hause als Privatschüler die Feststellungsprüfungen absolviert, nach ein-zwei Jahren gibt das die Mehrheit jedoch auf. Die Eltern sind der Ansicht, dass die Kinder eh nicht mehr in das ungarische Schulsystem zurückkehren würden. Aber nicht jedermanns Rechnung geht auf. Es gibt solche Kinder, die nach der achten Klasse zurückkehren, denn es war nach ihrer Ansicht in Österreich schwerer oder sie haben es ausprobiert und es war genug – das ist aber der seltenere Fall.

Zügel ziehen auf österreichische Art

Die an den Umfragen beteiligten Eltern haben in der Regel positive Erfahrungen, die Mehrheit spürt nach eigenem Bekunden keine Diskriminierung. Sie sagen, dass das Verhältnis zu den österreichischen Kindern an den meisten Orten gut sei, aber man berichtet auch von Ausnahmen. In Eberau hilft uns ein ungarisches Mädchen und erzählt, dass das Verhältnis zu den Einheimischen, die die Parallelklasse besuchen, nicht so gut sei. An einer anderen Schule gibt es auch solche Eltern, die meinen, dass „ein-zwei Lehrer, die die Ungarn nicht mögen, die Österreicher bevorzugt behandeln und die Ungarn unterdrücken” und dass unter den Kindern natürliche Rivalitäten vorkommen würden – beispielsweise bei der Fußball-EM, als es nicht gern gesehen wurde, dass nach der Niederlage Österreichs gegen Ungarn ein ungarischer Schüler mit einer Rot-Weiß-Grün-Fanschminke die Klasse betrat.

Die Dörfer im Burgenland, die ähnlich wie die ungarischen Kleindörfer mit Schülermangel zu kämpfen haben, versuchen ihre Schulen zu erhalten, so kam ihnen die Anmeldung von ungarischen Kindern gelegen. Mancherorts nahm das solche Ausmaße an, dass sich die einheimischen Eltern an der hohen Zahl von ungarischen Kindern störten und auch seitens der Schulträger wurden Vorbehalte laut. Deshalb wurde 2012 der Schuleintritt in die staatliche Volksschule (die der ungarischer Primarstufe entspricht) verschärft: Seitdem dürfen diese Schulform nur Kinder mit österreichischer Meldeadresse besuchen. Viele ungarische Familien – um einen Wechsel zurück in das ungarische Schulsystem zu vermeiden – suchten nach einer Lösung: Es gab Orte, wo sich die Lehrer bereit erklärten, dass sich bei ihnen einige Kinder anmelden. Solche administrative Lösungen funktionieren nicht mehr, denn der gewöhnliche Aufenthalt wird von den Behörden auch überprüft.

Seitdem wechseln die Kinder gewöhnlich nach der vierten Klasse auf eine österreichische Schuler – wenn nicht bereits im Kindergartenalter, wobei es ja komplizierter ist, denn diese Kinder müssen noch gebracht und abgeholt werden. Die einzelnen Kindergärten entscheiden eigenständig, wie viele ungarische Kinder sie aufnehmen. In der Regel sind das nicht mehr als vier-fünf pro Kindergartengruppe, denn man befürchtet, dass sonst die muttersprachliche Erziehung der österreichischen Kinder leiden könnte. Im Kindergarten müssen die nicht österreichischen Familien einen Beitrag leisten, aber dieser ist nicht allzu hoch.

Zum Preis einer Monatskarte für den Bus

Ein Schulbesuch kommt häufiger vor und das bedeutet keine hohe Bürde. Neben dem Unterricht ist die Versorgung mit Schulbüchern in Österreich auch kostenfrei, so ist die Busfahrt der größte Posten, wobei sich der Preis für die Monatskarte in Höhe von 15.-20.000 Forint (45 – 65 Euro) für viele rentiert. „Anstelle sie (Anm.:die Kinder) zu Hause zum Deutsch-Privatlehrer zu schicken, bekommen wir eine muttersprachliche Ausbildung und eine wahrhafte Integration”, hören wir auch von den Eltern.

Die Mehrheit der Kinder kommt mit keinen oder minimalen Deutschkenntnissen an, sie werden ins tiefe Wasser geworfen”, das haben auch die Untersuchungen von Judit Buchwald bestätigt. Laut den Bundesbildungsrichtlinien müsste man bei acht fremdsprachigen Kindern einen Sprachvorbereitungs- und Förderkurs anbieten, aber während dies in Wien gut funktioniert, wäre das im Burgenland eher die Ausnahme.

Es gibt Familien, die sich eben wegen der Bildungsmöglichkeiten in Österreich an der Grenze angesiedelt haben. Mehrere österreichische Einrichtungen werben in Ungarn, in der westungarischen Presse erscheinen auch Anzeigen von österreichischen Schulen. Zwei Schulen sind besonders beliebt: In Oberwart wird ein zweisprachiges Bundesgymnasium betrieben; den deutsch-ungarisch zweisprachigen Bildungsgang besuchen neben den burgenländischen Kindern auch in immer größerer Zahl Ungarn. Für sie ist es ein großes Plus, dass hier jeder in fünf Sprachen lernt.

Das Josefinum in Eberau, eine katholische Privatschule, startet neben den österreichischen auch ungarische Klassen. Diese Schule besucht auch Levente, der eine Trompetenausbildung absolvieren möchte, in einer der 15 Schüler starken Klassen. Hier werden alle Hauptfächer von zwei Lehrern unterrichtet. Diese Schule legt den Schwerpunkt erklärtermaßen auf die Integration, ‑ Sprachförderung der Schüler aus Ungarn -, damit sie von hier aus gut gewappnet Oberwart, Pinkafeld, Stegersbach, Güssing oder eine andere österreichische Mittelschule ansteuern. Jetzt könnte man die Schüler auch auswählen, nur Schüler mit einem Schnitt von 4,5 werden genommen. Dreimal in der Woche gibt es ungarischen Muttersprachenunterricht, aber es Wert auf den praktischen Unterricht gelegt.

Ruhe im Westen

Die ungarische Leistungsfeststellung geht mit viel mehr Stress einher, hier kommen die ungarischen Schüler zu sehr zur Ruhe. Man muss ihnen aufzeigen, dass man auch hier regelmäßig lernen muss”, erzählt Krisztina Oswald, eine der Ungarischlehrerinnen der Schule und spricht von der Wichtigkeit des Projektunterrichts, der Förderung und der individuellen Lernwege.

Der Frontalunterricht funktioniert bei den heutigen Kindern nicht mehr. Der Lernstoff in Österreich ist etwas weniger als in Ungarn, aber es ist nicht einfach in einer fremden Sprache zu lernen”, sagt sie und unterstreicht die Vorteile des multikulturellen Milieus der Grenzregion.

Es kommt vor, dass die Integration einzelner Schüler in das österreichische Schulsystem nicht glückt. Sie fühlen sich nicht wohl, die Gründe könnten am fremdsprachigen Umfeld, aber genauso am mangelnden Sprachvermögen oder den Mentalitätsunterschieden liegen”, sagt die Lehrerin der Eberauer Schule. Andere nehmen die Hürden leicht: Wenn sie gewusst hätten, dass es mit der Sprache und Integration so schnell klappt, dann hätten sie ihre Kinder eher in Österreich angemeldet oder bereits das erste Kind hätten sie auf eine österreichische Schule geschickt, hören wir von mehreren Eltern.

Die Mehrheit meint, dass sie das bekommen hätte, was sie erwartet hat: einen praxisorientierteren, stressfreieren und kinderorientierteren Unterricht. Hinter ihrer Wahl steht auch die Kritik am ungarischen Bildungswesen. Weniger das Schulträgerschaftszentrum KLIK oder die Bildungsreformen der letzten Jahre, sondern vielmehr praktische Gesichtspunkte geben da den Ausschlag: Die Eltern halten den ungarischen Sprachunterricht für katastrophal, halten die Menge des theoretischen Wissens für überflüssig, während sie die Mentalität der österreichischen Lehrer loben.

Die österreichische Schulbildung bietet eine extra Möglichkeit für die Glücklichen, denen es aus geografischen Gründen offen steht oder auch für die, die einen Umzug in Kauf genommen haben, damit das Kind hier lebend in einer österreichischen Einrichtung lernt. Sie bekommen für fast umsonst eine Alternative zur ungarischen staatlichen Schulbildung und sie entscheiden mit ihren Füßen beziehungsweise mit dem Schulbus. Die Mehrheit entscheidet sich unabhängig von der Politik dafür und würde es auch dann tun, wenn die ungarischen Schulen etwas besser wären – mit der Möglichkeit einer Karriere in Österreich könnte das heimische Umfeld auch dann nicht mithalten, wenn es eine freie Lehrbuchwahl gäbe oder sich die Lehrerschaft in einem besseren Zustand befände. Ein Teil der Familien – vornehmlich aus der Mittelschicht- hat in Westungarn für den Auszug gestimmt. Diese Familien werden keinen Druck mehr auf das ungarische Bildungssystem von innen heraus üben, damit es ein Stück besser wird, jedoch hat das ungarische Umfeld solche Familien für eine lange Zeit oder für immer verloren.

Quelle: https://index.hu/belfold/2019/05/21/ingazo_gyerekek_ausztria_oktatas_osztrak_iskolaba_jar/

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