Von Georg Sawa
Identität ist quasi das Wissen über uns selbst, die Definition von uns selbst. Ich frage mich oft nach diesem Selbstbild der Deutschen in Ungarn. Klar, eine Prägung des Landes, in dem wir leben, und seiner Völker, die uns umgeben, ist nicht wegzudenken, was jedenfalls eine Bereicherung für uns selbst darstellt. Wie auch wir selbst eine Bereicherung für unser Heimatland darstellen: durch unsere Sprache, durch unsere Kultur. Alle, die dies nicht so sehen (unter uns oder seitens der Mehrheitsnation) sind nicht nur engstirnig, sondern sie legen ein Zeugnis dafür ab, dass sie akkulturiert sind, dass sie bereits nur noch eine uniformierte Einheitskultur verkraften – letztendlich weil ihre Selbstdefinition – ihre eigene Identität- zu schwach ist. Meine Meinung ist, dass nur jener Mensch das Anderssein als eine Bereicherung (für sich selbst und für die Gemeinschaft) empfinden kann, der es selber auch wagt – ja dafür stolz ist, sich selbst in seiner (wenn auch von der Mehrheit abweichenden) Tradition offen zu zeigen, sich anders als der Mainstream zu definieren.
Als Volksgruppe bedarf die gemeinsame Definition Anhaltspunkte, an denen man sich als Gemeinschaft festhalten kann. Im Falle der Deutschen in Ungarn sind das in erster Linie die Sprache unserer Ahnen, die historischen Momente, die uns als Gemeinschaft erfasst haben, unsere Volkstracht, unsere religiösen Prägungen, die Sitten und Bräuche sowie die kulturellen Leistungen und Merkmale.
Im Falle der Sprache müssen wir davon ausgehen, dass unsere Ortsmundarten – schon durch die aufgelösten und sich weiter auflösenden Dorfgemeinschaften – in bereits absehbarer Zeit verschwinden werden. Ob Hochdeutsch dieses Defizit je wird ausgleichen können, ist fraglich – ja, fast eine Illusion. Es ist klar, dass es im Karpatenbecken immer Leute geben wird, die Deutsch auf Muttersprachen-Niveau beherrschen werden, nur: Werden sie auch eine Gemeinschaft bilden (können), die sich als (Volks)Gruppe definiert?
Historische Identifikationspunkte sind für uns die Fragen, wann, woher, wie und weshalb unsere Vorfahren anno dazumal in „das schöne Ungarnland” eingewandert sind, wie sie zusammengelebt haben – unter sich und unter für sie fremden Völkern, unsere Leistung bei dem Neuaufbau unserer neuen Heimat sowie bei der erneuten Festigung des Kirchenlebens nach der Türkenzeit und dann die neue Treue in einem sich nach dem Ausgleich von 1867 national und nationalistisch prägenden Ungarn, die Magyarisierung mit dem Verlust einer eigenen Intelligenz und die Rolle der katholischen Kirche dabei, der Kampf (besonders unter Jakob Bleyer) um das Deutschtum in Ungarn politisch zu erfassen, um es im Sinne des Fortbestehens zu mobilisieren, das Blutzeugnis an der Seite Ungarns in zwei Weltkriegen – und schließlich Malenkij Robot und die Vertreibung mit der bis heute aktuellen Frage danach, wer und was wir als Person und was wir als Gemeinschaft geblieben sind.
Wenn man in alter Zeit jemanden in seiner Volkstracht sah, konnte man nicht nur die Nationalität eines Menschen erkennen, sondern oft auch seine bis auf eine Ortschaft genaue Herkunft. Diese Präzision einer Selbstdefinition, einer Identität, ist nicht nur verschwunden, sondern ist durch die Globalisierung bis auf die Kontinentenebene aufgehoben. Fazit: Äußere Merkmale werden uns als Gemeinschaft nicht noch einmal zusammenführen. Auch die Volksgruppen befinden sich also auf dem Weg in Richtung der globalen Anonymität.
Die Kirchen sind in ihrer ehemaligen sprachlichen Vielfalt (und in sich selbst als Gemeinschaft) geschwächt und kommen jener ihrer Mission, jedem in seiner Muttersprache Gottes Wort zu vermitteln, nicht mehr nach. Leider hat die katholische Kirche mehr als hundert Jahre lang hart daran mitgewirkt, die Sprachen der Volksgruppen aus dem kirchlichen – aber auch aus dem gesellschaftlichen – Leben in Ungarn zu verdrängen. Wichtig geblieben ist für uns als Volksgruppe zum Beispiel an Festtagen oder bei Wallfahrten bis heute und auch in der Zukunft, uns öffentlich als Gemeinschaft zu definieren. Dabei zeigen sich weniger nur Ortsgemeinschaften, sondern regionale oder überregionale Veranstaltungen.
Die Frage danach, ob und wie wir fortbestehen sollen oder wollen, wird in der Regel bei den Ungarndeutschen kaum gestellt. Es herrscht eine Schönrederei vor, die es bezweckt, dass (Geld)Quellen nicht versiegen sollen… Dabei wäre es nötig eine Bestandsaufnahme unser selbst vorzunehmen, um jene Punkte auszuarbeiten, die unserer heutigen Zeit gerecht ein Bestehen für eine Volksgruppe ermöglichen. Natürlich ist es eine bittere Konsequenz, dass es nach alten (teils auch veralteten) Merkmalen und Kriterien nicht mehr möglich ist unsere Gemeinschaft zu erhalten. Aber wir leben nicht in einem Reservat und wir können uns auch nicht wie eine lebendige Zeitkapsel verhalten. Was gerade durch die Kulturgruppen und ihre Tätigkeit geschieht: Sie machen uns skanzen-fähig, sie sind aber bis heute nur noch Schaufenster in einem Panoptikum, denn hinter der Fassade hat unsere sprachliche Substanz das Ungarische aufgefressen und statt der historischen Identifikation als Volksgruppe hat man sich zu Ungaren besonnen, die sich ihrer eigenen Wurzeln nicht mehr bewusst sind…
Meine Hoffnung, aus dieser miesen Lage einen Ausweg zu finden, ist ehrlich gesagt, zaghaft geworden. Klar, alleine zu kritisieren ist leicht. Die Sache anzupacken beginnt wohl durch eigene Beispiele, durch Impulse, die vielleicht in manch anderem Mitglied unserer zerrütteten Gemeinschaft „weitertakten”.
Was wichtig wäre, was noch helfen könnte? – Die verantwortliche, umfassende Idee, die den verschwundenen inneren Anspruch auf eine Gemeinschaft unter uns weckt, ist die Volksgruppe der Deutschen in Ungarn zu reanimieren. Denn der Fortbestand als Nationalität kann nicht erzwungen werden. Die Bemühung alleine auf dem Bildungsweg es zu schaffen, ist zum Scheitern verurteilt, denn das Bestehen als Volksgruppe ist / kann nicht ein Schulfach sein – selbst wenn man dabei Erfolge erzielen kann. Die „Zugehörigkeit” als solche ist nämlich viel weniger eine kognitive als eine emotionale Erscheinung: Die Gemeinschaft ist mehr eine erlebbare als eine erlernbare Sache. Dennoch hat all das mit Erziehung zu tun: durch unser eigenes Beispiel. Die Gemeinschaft einer Volksgruppe kommt aus den Familien gewachsen. Der Anspruch muss da sein, dann kann man auch mit den Angeboten der Bildung etwas anfangen. Wenn wir in uns als Gruppe mit Gemeinschaftsanspruch leben, dann werden auch die Kulturgruppen auf einen Schlag lebendig. Dann werden sie statt der jetzigen mechanischen Kopien plötzlich authentisch! Plötzlich wäre es uns selbst wichtig, uns nicht abzugrenzen, sondern uns zu zeigen, uns auszuteilen! Wir wären stolz uns vor aller Welt zu präsentieren und hätten plötzlich wahres Interesse andere Gemeinschaften zu erleben, kennen zu lernen! Unsere Volksgruppe – wir selbst – wären mental gesund: Denn als Ungarndeutsche in dem jetzigen Zustand bleiben wir bis zu unserem Ableben nur scheinlebendig.