von Monique Matter / François Schaffner
Das Elsass ist als Schlemmerland, als Einkaufs- und Wanderregion mit den vielen Burgen, als Region mit berühmten Museen und Sehenswürdigkeiten bekannt. Doch es hat noch anderes anzubieten. Das Elsass gilt als eine der Wiegen der deutschen Sprache seit dem 9. Jh. bis Ende des 16. Jh., als Kulturland. Als französische Gegend ist es ein Teil des rheinischen Humanismus und der Kultur. Viele Elsässer wollen nicht auf die deutsch-französische Zweisprachigkeit verzichten und setzen sich energisch dafür ein.
Das Elsass ist seit längerem ein zweisprachiges Land, ein Land, in dem Französisch und die elsässische Regionalsprache gesprochen werden. Doch muss man sich heute fragen, ob diese Feststellung noch der Wirklichkeit entspricht.
Historisch betrachtet besteht die Regionalsprache der Elsässer aus mehreren sprachlichen Komponenten: Aus der Mundart Elsässerditsch, d. h. aus Alemannisch und Fränkisch, sowie der Standardsprache Hochdeutsch. Über viele Jahrhunderte, vom 14. Jahrhundert bis 1939, wurde Deutsch als Muttersprache und als Unterrichtssprache in den »Teutschen Schulen« (so die Bezeichnung der Grundschulen seit dem Mittelalter) gelehrt.
Nach 1945 erfolgte eine große Zäsur: Französisch wurde seitdem bis in die 70er Jahre als einzige Sprache an den Grundschulen zugelassen. Selbst auf dem Schulhof und auf dem Sportplatz war die Verwendung der elsässischen Mundart, des familiären Dialekts, unter Strafandrohung streng verboten. In den Sekundarschulen wurde Deutsch nun ausschließlich als Fremdsprache unterrichtet, allerdings ohne jeglichen Bezug zum Dialekt. Dies ungeachtet der Tatsache, dass die Mundartsprechenden damals in der Bevölkerung noch eindeutig in der Mehrheit waren.
Zwischen 1950 bis 1980 kam es aufgrund dieser Sprachpolitik zu einem raschen Rückgang im Gebrauch der Regionalsprache in ihren beiden Formen. Dabei wurden der Jugend und den Eltern gezielt Komplexe hinsichtlich der angestammten Sprache eingeimpft .
Deutschunterricht in der Primarschule
Erst 1971 sorgte der Oberschulamtsdirektor F. Guyard in einem Interview mit der Zeitung Dernières Nouvelles d‘Alsace mit folgender Feststellung für ein Umdenken: »Der alemannische Dialekt bildet in dieser Region die Vor-aussetzung für das Erlernen und Beherrschen der deutschen Sprache. Es wäre sehr bedauerlich, diese sprachliche Komponente verkümmern zu lassen«.
Diese Feststellung wurden nun für die regionale Sprachpolitik richtungsweisend, so dass diese gewandelte Sichtweise sich dann allmählich in der Schule verbreiten und etablieren konnte.
Seit 1973 wurde dann auf der Grundlage der sogenannten Holderith-Methode mit spielerischen Sketchen Deutsch an der Grundschule als Unterrichtsfach wieder eingeführt. Leider konnten aber nicht alle Schüler davon profitieren, da einerseits die Lehrkräfte auf einer rein freiwilligen Basis sich dazu bereiterklären mussten und andrerseits die Lehrergewerkschaft der Grundschullehrer (SNI) der Einführung des Deutschunterrichts entschieden Widerstand leistete.
In der Mittelstufe (Collège) wiederum wurde auch für den Deutschunterricht eine regionale Unterrichtsmethode für die Dialektsprechenden eingeführt. Anfangs 1980 entwickelte schließlich der Schriftsteller André Weckmann für die Mittelstufe eine spezifische Lernmethode, die auf den Mundartkenntnissen der Kinder aufbaute, indem sie entsprechende mundartliche Einführungstexte konzipierte. Diese neuen Herangehensweisen beim Erlernen der Regionalsprache können als eine wichtige Wende in der Schulpolitik betrachtet werden. Andrerseits kamen diese Neuerungen zu spät, denn die meisten Familien hatten in ihrem Sprachverhalten schon resigniert und es in der Alltagspraxis aufgegeben, den Dialekt ihren Kindern weiterzugeben.
Die sogenannte ISERCO-Studie (1989–1990) bestätigte dann, dass die Holderith-Reform sich als wenig erfolgreich erwiesen hatte. Eine spätere 2005/6 durchgeführte Untersuchung des Kultusministeriums brachte dann den höchst ernüchternden Befund, dass nur 1 % der Grundschulschüler im Oberelsass und 4 % im Unterelsass noch den Dialekt benutzten.
Dieser Befund kontrastiert in geradezu exorbitantem Ausmaß mit einer Analyse, die der Oberschulamtsdirektor Pierre Deyon bereits 1982 in einem Rundschreiben an die Schulen mitgeteilt hatte. Darin betonte er ausdrücklich den Stellenwert und die Besonderheit der Regionalsprache und würdigte expressis verbis deren deutsche Wurzeln, die in einem französischen kulturellen Umfeld weiterleben sollten. Zugleich bekundete er die feste Absicht der Schulbehörde, die Regionalsprache in der Schule angemessen zu berücksichtigen, was die Forderung beinhaltete, Hochdeutsch als spezifische Standardform der elsässischen Dialektvarianten in der Schule zu unterrichten und zu lehren.
Vorteile der Zweisprachigkeit
Hinter der Feststellung von P. Deyon stand die wissenschaftlich erwiesene Erkenntnis, dass Zweisprachigkeit, in diesem Falle das Erlernen und Beherrschen der deutschen Sprache zusätzlich zur französischen Muttersprache, eine Reihe von Vorteilen impliziert: Die sprachlichen Kompetenzen, die mit der anfänglichen Muttersprache erworben werden, verbessern sich nämlich signifikant durch den Umgang und das Erlernen einer zweiten Sprache und erleichtern so den bilingualen Schülern erwiesenermaßen den späteren Erwerb einer oder mehrerer anderer Sprachen. Dies beruht vor allem auf der Tatsache, dass die dazu erforderlichen sprachlichen Kompetenzen nicht erneut erlernt werden müssen, sondern bereits vorhanden und somit unmittelbar abrufbar sind.
Das frühe Erlernen und Beherrschen der deutschen Sprache erweitert zudem in einer späteren Phase der individuellen Lernbiografie die Möglichkeiten des ausbildungsbezogenen Erfolgs. Man kann auf deutschsprachigen Schulen und Universitäten lernen oder studieren und hat größere Erfolgschancen, wenn es z. B. darum geht, sich um einen Ausbildungsplatz oder eine Lehrstelle im Ausland zu bewerben. Den Elsässern öffnet sich auf diese Weise auch der deutschsprachige Arbeitsmarkt, auf dem es bekanntlich einen großen Mangel an Fachkräften gibt. Auch im Elsass selbst ergeben sich durch die Zwei- oder Mehrsprachigkeit unschätzbare Vorteile hinsichtlich einer beruflichen Karriere, etwa im Bereich der Tourismusbranche oder ganz allgemein auch in der Wirtschaft. Und darüber hinaus: Es ist eine Binsenwahrheit, dass Zwei-oder Mehrsprachigkeit den eigenen kulturellen Horizont erweitert und so auch zu einer offeneren Grundeinstellung und Haltung gegenüber anderen Kulturen beiträgt. Nicht zuletzt ist eine deutsch-französische Zweisprachigkeit in einem zusammenwachsenden Europa auch eine entscheidende Voraussetzung für das nachhaltige Gelingen einer deutsch-französischen Verständigung im eigentlichen Wortsinn.
Einführung des zweisprachigen, paritätischen Unterrichts
Das erwähnte Rundschreiben von Pierre Deyon wirkte für die Zweisprachigkeit als eine folgenreiche Initialzündung. Mehrere Bürgerinitiativen lösten im Verein mit Bemühungen der politischen Körperschaft en eine neue Dynamik innerhalb des Schulsystems aus. Den Anfang machten 1991 auf vereinsmäßiger Basis die der Zweisprachigkeit verpflichteten ABCM-Schulen (Association pour le bilinguisme dès la classe de maternelle) sowie die katholische Privatschule des Institut Champagnat in Issenheim. 1992 schloß sich dann auch das staatliche Schulsystem dieser Initiative an.
Die Grundlage des zweisprachigen Unterrichts besteht darin, dass jede Sprache mit einem paritätischen Anteil von 50 %, in Französisch und Deutsch, ab der ersten oder zweiten Stufe der Vorschule unterrichtet wird. Dabei werden bestimmte Fächer in der deutschen bzw. der französischen Sprache unterrichtet, wobei jede Sprache von zwei verschiedenen Lehrkräften praktiziert wird. Es wurden in den Folgejahren seit 1991 mehrere Vereine gegründet, um diesen paritätischen zweisprachigen Unterricht zu fördern, wobei diese im soziokulturellen Bereich und im sozialpädagogischen Bereich aktiv wurden. Im Verband für die Sprache und Kultur im Elsass und im deutschsprachigen Lothringen (Comité fédéral pour la langue régionale en Alsace et en Moselle germanophone) haben diese Vereine, die eine treibende Kraft bei der Förderung der Regionalsprache sind, sich seit längerem zu einem Dachverband zusammengeschlossen. Gemeinsam konnten so auch Studienreisen in die Bretagne, ins Baskenland, ins Aostatal und nach Südtirol organisiert werden, um in diesen Regionen mit analoger Sprachsituation wie im Elsass sich über Fragen des Unterrichts der Regionalsprache auszutauschen.
Es war nicht immer einfach, von der Schulverwaltung die Unterstützung oder auch die Genehmigung zur Eröffnung einer zweisprachigen Klasse zu erhalten. Nur durch zahlreiche Elterninitiativen und öffentliche Werbeveranstaltungen, mitunter auch durch Demonstrationen, konnte dieses Ziel im Einzelfall dann doch erreicht werden.
Weiterlesen: http://www.alsace-lorraine.org/blog/2017-2/126-zur-situation-des-deutschunterrichts-im-elsass.html