„Ich bin Ungarin mit einer – sowohl geographisch als auch historisch und sprachlich – verzweigten Geschichte der Vorfahren. Durch das Germanistikstudium, durch Verwandte und Freunde in beiden Teilen von Deutschland (vor der Wende), durch die Tätigkeit als Reiseleiterin und Dolmetscherin in der Studentenzeit, durch eine vielseitige Arbeit als Deutschlehrerin, durch das Pflegen des väterlichen Nachlasses zum Thema „Eleker Deutsche”, durch das „Liebgewonnen” der deutschen Sprache und Kultur habe ich angefangen nach meinen Wurzeln zu suchen. Dazu kommt jetzt auch eine Erinnerungs- und Forschungsarbeit in meinem Heimatort. Es ist jedenfalls keine einseitige, nur das Deutschtum betonende Identität, die ich „gefunden habe”.
„Passt es wirklich in Ihr Blatt?”
An Richard Guth war die Frage gerichtet, nachdem er mich gebeten hat über das Thema „Ungarndeutschtum” zu schreiben. (Grund dafür waren – während einer Studienreise – einige kritische Bemerkungen zum Thema Muttersprache, Gründe des Sprachverlustes, Deutschunterricht etc. Auf seine Ja-Antwort kommt jetzt eine etwas längere Erörterung. Eine durchschnittliche Geschichte einer “Monarchiefamilie“ aus der Region des Banats und der Werdegang einer „ungarndeutschen“ Familie aus dem heutigen Komitat Bekesch im 20. Jahrhundert – als Vorgeschichte meiner eigenen.
Die mehrsprachigen Urgroßeltern
Als vor Jahren die Esszimmergarnitur meiner Großmutter in unserem Haus Platz fand, dachte ich nur an die Vorteile des großen, praktischen Tisches. Für heute wurden mir diese Garnitur und ein altdeutsches Sofa ein „symbolischer Rahmen” für unsere Familiengeschichte. Das Esszimmer stammt nämlich aus Nagybecskerek/Großbetschkerek/Zrenjanin im Banat/Vojvodina (heute Serbien), wo die Wurzeln meiner Mutter – mütterlicherseits – zu finden sind, das Sofa aus Elek (früher am Rande des Banats, heute Ungarn, Komitat Bekesch), woher mein Vater stammt. Auch zwei große Porträts ergänzen den Raum: von Wenzel Hruschka (geb. 1851, Horní Bucice/ Oberbutschitz – Böhmen) und Laura Wichtner (geb. 1853, Pétervárad/Peterwardein bei Neusatz, Vojvodina). In Großbetschkerek sprach die Familie deutsch, aber der Vater Wenzel Hruschka – als Unternehmer und Mühlenbesitzer – beherrschte fünf Sprachen. Die Mutter, Laura Wichtner, konnte nur Deutsch, Beweis dafür sind die an sie geschriebenen Briefe. Als Folge des Ersten Weltkrieges verlor Wenzel Hruschka sein Vermögen, nach der Grenzzieheung von Trianon fiel seine Mühle auf die rumänische Seite. In den letzten Lebensjahren, Ende der 1930er Jahre, fand das Ehepaar bei der jüngsten Tochter in Kétegyháza/Ungarn Obdach. Sie haben hier auch ihre letzte Ruhestätte gefunden.
Die Geschichte der Vorfahren in Elek ist einbahnig: 1724 kamen die ersten Ansiedler – nach der 150-jährigen Türkenherrschaft – hier, in einer verödeten Gegend an; viele aus Gerolzhofen/ Unterfranken, darunter die Ahnen der Großmutter meines Vaters (Theresia Zielbauer 1864-1948, Elek). Alle seine Vorfahren sind aus der „Eleker Sippe“; hier geboren und gestorben.
Der größte Teil der Bewohner von Elek hat „ihre deutsche Muttersprache“ – besser gesagt ihren bayrisch-fränkischen Dialekt – bis 1946 behalten. Da wurde 90% der Einwohner vertrieben. Mehrsprachigkeit war schon im 19. Jahrhundert in Elek vorhanden; unter den Dienstpersonen waren nämlich viele Rumänen und in der Gemeindeverwaltung auch Ungarn (Madjaren). Auch ein Foto bzw. Tableau mit der Gemeindeverwaltung aus dem Jahre 1892 fand Platz bei uns. Das Bild ist ungarisch beschriftet: „Elek község elöljárósága 1892-ben”. Der Richter hieß Vilmos Magyar, die meisten Personen hatten einen deutschen Namen. Alois Mahler, der vereidigte Verwalter der Gemeindeziegelei, Mitglied des Schulvorstandes („téglagyári esküdt”, az „iskolaszék tagja”) musste wohl auch schon Ungarisch können. – Er war der Großvater meines Vaters.
Und wenn sich heutzutage die Großfamilie um den oben erwähnten großen Esstisch versammelt, ist die für meine Urgroßeltern typische Mehrsprachigkeit in der vierten und fünften Generation wieder vorhanden. Deutsch ist dabei stark vertreten.
Deutschkenntnisse der Nachkriegsgeneration, mein Werdegang
Ich bin in Elek geboren, bis zum Abschließen des örtlichen Gymnasiums hier zur Schule gegangen. Meine Tage/Jahre – besonders als Kleinkind – vergingen in der Achse Elek-Kétegyháza, wo die Eltern meiner Mutter lebten und immer Zeit für uns Kinder hatten. Die väterlichen, also die Eleker Großeltern sind leider früh verstorben. Sprachkenntnisse? Meine Eltern waren Lehrer, wir haben zu Hause ungarisch gesprochen, die Sprache der Mutter. Deutsch ist aber auch in den Familien verschwunden, wo es beide Elternteile beherrschten. Zwischen 1944-46, in den 1950er, 60er Jahren mussten die Eleker Deutsche so viel Leid und Demütigung erleiden, dass sie die Angst verstummen ließ. An einen Spruch kann ich mich doch erinnern. Mit ca. drei Jahren wurde er mir „schwowisch“ beigebracht um dem Großvater Florian Mester/Mahler zum Namenstag zu gratulieren:
„Wintschi, wintschi, waz nid was, kreift nei säkala, ked mi was“ – Ich habe wohl nicht gewusst, was es bedeutet.
Die zwei-drei Wochenstunden Deutsch im Gymnasium haben zum Erlernen der Sprache natürlich nicht gereicht; Brieffreundschaften, gegenseitige Besuche halfen viel und bedeuteten die Möglichkeit „die Welt kennen zu lernen“. Im Sommer 1966 hatte ich zwei „große Reisen“: Mit der Mutter haben wir einen Monat in West-Deutschland bei den Cousins und Kusinen meines Vaters verbracht. Wegen seiner Teilnahme an den revolutionären Geschehnissen in Elek hat er selbst die Genehmigung nicht bekommen in den „Westen“ zu fahren. In die DDR / nach Ostdeutschland durfte er doch eine Gruppe von Gymnasialschülern begleiten. An diesem Schüleraustausch nahm ich auch teil. Die Unterschiede im geteilten Deutschland sind mir bis heute in Erinnerung.
Deutschkenntnisse brauchte ich um einen Studienplatz an der Universität in Segedin bekommen zu können.
Auf die Frage „Was die Welt im Innersten zusammenhält…” (mit 16-18 habe ich es mir natürlich anders formuliert) dachte ich in der Literatur eine Antwort zu bekommen, so wählte ich die Fächer Ungarisch-Deutsch. Das Germanistikstudium war am Anfang eine Qual für mich. Mein Deutsch aufzubessern half ein Stipendium; 1971 konnte ich zwei Monate in Berlin verbringen. Natürlich im Osten, der andere Teil kam zu dieser Zeit gar nicht in Frage. Die Stadt (besonders seitdem es wieder vereint ist) mag ich bis heute. Humboldt-Universität – Staatsbibliotek, wo man im Lesesaal sogar Böll lesen konnte, Theater – Kinos – Faschingszeit – „Spar mit der Energie”-Verdunkelung, demzufolge ragte das voll beleuchtete Axel-Springer-Haus aus der Dunkelheit noch mehr heraus, grundsätzliche Jugenderlebnisse mit Freundschafen, die bis heute lebendig sind. Anschließend konnte ich einen Kurs als Reiseleiterin machen und weil ich parallel mit dem Studium viel gearbeitet habe, nicht nur als Begleiterin von Reisegruppen, sondern auch als Dolmetscherin, ist mein Deutsch fast akzentfrei geworden, und ab dann hat auch das Studium Spaß gemacht.
Wegen der Nachfrage als Deutschlehrerin habe ich kaum Ungarisch unterrichtet; dafür aber Deutsch auf allen Niveaustufen: vom Kindergarten- bis zum Rentneralter, in Sprachschulen, privat, aber hauptberuflich in einem renommierten Gymnasium in Budapest. Und so konnte ich leider auch miterleben, wie Deutsch als Fremdsprache immer mehr an die zweite Stelle nach dem Englischen gelang. Parallel damit kamen immer mehr Stipendiaten aus Deutschland mit der Erfahrung zurück, dass sie während ihrer Aufenthalt mehr Englisch als Deutsch üben konnten. Und an den Arbeitsplätzen ging/geht es ähnlich.
„Wie begeistert lehren sie unsere Sprache„ – hat jemand einmal aus einer deutschen Delegation nach meiner Stunde gesagt. Ihre Sprache? Das ist ja auch meine! – dachte ich mir und denke auch heute noch, ich habe es mir ziemlich mühevoll erworben. Das Germanistikstudium, Deutsch als Schulfach oder die Tätigkeit als Deutschlehrerin hatten aber in den 1970-80er Jahren auch ihre Schattenseiten: die Vorurteile, Stigmas („Sünder und Faschisten”) wurden oft ohne jeden Grund an alle übertragen. Zum Beispiel ein „westdeutsches” Sprachbuch im Lehrerzimmer zu loben machte schon einen „verdächtig”. Trotz allem habe ich mit meinen Kindern bis zum Kindergartenalter Deutsch gesprochen, um ihnen den Spracherwerb zu erleichtern. – Bis heute sind sie dafür dankbar, es hat ihre Mentalität, ihre Berufswahl stark beeinflusst.
Und ob es eine Doppelidentität gibt? Im Falle meiner Enkelkinder sicher schon: Sie leben im größten Teil des Jahres in Österreich, und wenn sie in Ungarn sind, möchten sie nicht deutsch sprechen – jedenfalls nicht mit mir. Und ich bemühe mich jetzt ihnen das Ungarische auch in Schrift beizubringen.
Erinnerungs- und Forschungsarbeit in meinem Heimatort
Als ich angefangen habe den Nachlass von meinem Vater Georg Mester/Mahler zu verarbeiten, habe zuerst nur an die Ergänzung/Fortsetzung seiner Arbeit in der Ethnographie gedacht bzw. Corpus zur Aufarbeitung des Eleker Dialekts gesammelt. Aber in den Unterlagen fand ich Dokumente, die helfen, die lange verschwiegenen Geschehnisse in den 1940er Jahren in Elek an Tageslicht bringen zu können – im Zusammenhang der Verantwortung der Großmächte, der Landesregierung und der örtlichen Amtsinhaber. Nun habe ich angefangen auch in Archiven zu recherchieren.
70 Jahre wurde nicht nur öffentlich, sondern auch in den meisten Familien über die tragischen Geschehnisse dieser Zeit nicht gesprochen, die deutsche Herkunft wurde von vielen abgelehnt. Kein Wunder, dass im Ort nur wenig Leute noch Deutsch können, noch schlimmer, wenn sich viele mit ihrer Familiengeschichte überhaupt nicht auseinandersetzen wollen. Zum Anlass der Gedenkjahre der Verschleppung und Vertreibung wurden Interviews gemacht – nicht nur von mir; SchülerÍnnnen des Deutschen Nationalitätengymnasiums sind sogar aus Budapest mit dem Ziel nach Elek gefahren, um Mitleidende der Verschleppung und Vertreibung kennen zu lernen. Sie haben zum Beispiel einen alten Herrn getroffen, der mit sieben Jahren mit den Großeltern nach Deutschland vertrieben wurde, während seine Eltern in der Ukraine als Zwangsarbeiter schufteten.
Es ist auch erfreulich, dass immer mehr alte deutsche Bräuche in Elek wiederbelebt werden, dass viele an Studienreisen teilnehmen können um andere Orte mit deutscher Vorgeschichte kennen zu lernen. Nur durch positive Erlebnisse können die immer noch vorhandenen Vorurteile abgebaut werden, und für die Sprache / den Sprachunterricht ist es auch ein Gewinn. Durch interessante Programme, Vorträge, Bücher die Vergangenheit und die Gegenwart der Ungarndeutschen populär machen, zum Deutschlernen motivieren – das ist meine Welt. Auch wenn Deutsch nicht meine Muttersprache ist.
Bild: vddelek.files.wordpress.com