Minderheiten in den ostmitteleuropäischen Parlamenten: eine funktionsfähige Praxis

Von Stefan Pleyer

 

Seit 2011 besteht die Möglichkeit für die Minderheiten in Ungarn, Abgeordnete in das Parlament zu schicken, im Falle, wenn sie genügend Stimmen von den Wahlbürgern erhalten. Dieser Schritt der ungarischen Gesetzgebung galt vor sieben Jahren als eine riesige Erneuerung in der ungarischen Geschichte. Wenn wir in die Nachbarländer schauen, sehen wir, dass die parlamentarische Vertretung der Minderheiten, Nationalitäten, Volksgruppen in den anderen Ländern des Karpatenbeckens im Laufe der vergangenen Jahre auch zur Praxis wurde.

Aufgrund des Zerfalls „der alten Welt” in der östlichen Hälfte Europas 1989-1990 erfolgte eine Neugeburt der demokratischen Systeme in unserer Region: Neue Parteien, Verfassungen, Wahlsysteme lösten die frühere kommunistische Nomenklatur ab, um solche Fragen wie Macht, Landesführung, Vertretung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen in eine Europa-fit-Dimension zu setzen. Dementsprechend mussten sich die postsozialistischen Länder in einer geistig und politisch nicht gebundenen Athmosphäre wieder definieren, was das Staatsvolk ist und wer unter diese Kategorie fällt.

Die rumänische Verfassung aus dem Jahre 1990 beantwortet diese Frage folgendermaßen: „Rumänien ist ein einheitlicher, unteilbarer Nationalstaat”, darüber hinaus, „die nationale Souveränität gehört dem rumänischen Volk” (Art. 1). Obwohl der damalige Akzent in der Neugestaltung nicht darauf gelegt wurde, aber bereits in den ersten Jahren nach dem rumänischen Systemwechsel erhielten Minderheiten Plätze im rumänischen Unterhaus, später auch im Senat, gemäß den neuen Elementen der Verfassung: Das rumänische Wahlsystem ermöglicht nationalen Minderheiten im Unterhaus Abgeordnetenplätze zu haben, die zuerst von der madjarischen Minderheit seitens des DVdU (Demokratischer Verband der Madjaren in Rumänien) besetzt wurden, dahingegen war im Senat die Präsenz derartiger Minderheitenabgeordneter nicht maßgebend: Wenn sie überhaupt dort erschienen, waren es größtenteils Madjaren (mit einer armenischen Ausnahme, Varujan Vosganian, der unter den Flügeln der NLP ein Mandat errang). Am Anfang führten die frisch gegründeten Minderheitenparteien aktive Wahlkämpfe für diese Repräsentation, aber später beurteilte die rumänische Gesetzgebung ihre Situation so, dass es noch glücklicher und demokratischer wäre, Minderheitenabgeordnete automatisch, abgesehen von ihren Wahlergebnissen aufzunehmen. Das kam ja nicht von ungefähr: Die große Zahl der Madjaren sicherte für sie eine Art von Hegemonie in der Nationalitätenpolitik, darüber hinaus buhlten immer mehr neue politische Formationen „um die Seelen ihrer Wahlbürger.” Aus diesem Grunde war eine Reform im System notwendig: Seit 2003 können die Minderheiten Rumäniens einen sicheren festen Sitz im Parlament bekommen (mehr kann es natürlich auch sein), ganz unabhängig vom Wahlerfolg, jedoch darf sich nur eine Organisation kandidieren. Dank dem neuen System arbeiten die Parteien der Minderheiten auch im Senat effektiver als früher: Beispielsweise übt dort der ungarische DVdU sein Mitspracherecht mit neun Abgeordneten aus. Wichtig ist es zu betonen, dass auch die rumänischen Diasporen neben den Minderheiten einen Abgeordneten delegieren, der dann das ganze Auslandsrumänentum vertritt.

Das wiederum unabhängig gewordene Kroatien und das ganze Westbalkan waren seit jeher multiethnisch: Seit dem Mittelalter, aber auch in den Jahrhunderten danach prägten Serben, Ungarn, Deutsche, Italiener und Slowaken das Gesamtbild Kroatiens, nicht umsonst galt dieses Land als ein echtes Spannungsfeld ethnischer Konflikte. Wie im Falle Rumäniens sollte auch die kroatische Elite etwas mit Hilfe juristischer Intrumente mit der Sache der in Kroatien lebenden Minderheiten anfangen. Die blutige Geschichte der 1990er Jahre begann jedoch mit einer heilsamen Neuigkeit: Auch die Weihnachtsverfassung aus dem Jahr 1990 („božićni ustav”) lässt die Frage der Volkssouveränität nicht unbeantwortet, der Inhaber dieses Rechtes soll selbst das kroatische Volk sein, daneben wird anerkannt, dass Kroatien nicht nur aus einem alleinigen Staatsvolk, dem kroatischen, besteht, sondern aus Serben, Ungarn, Deutschen, Österreichern gleichfalls. Diese Anerkennung bot im Weiteren die Möglichkeit für eine künftige parlamentarische Vertretung im Sabor (merkwürdigerweise erscheinen auch die Juden als nationale Minderheit und nicht als Religionsgemeinschaft – noch ferner, bezüglich der Weihnachtsverfassung wurde kritisiert, dass sie andere ethnische Gruppen wie die Bosniaken oder die Roma nicht erwähnte). Das Endziel, also die Repräsentation der nationalen Minderheiten, gelang durch mehrere Phasen in der kroatischen Politik: Zuerst wurde die Verfassung mit einem Kapitel ergänzt („Der Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten”), das war der erste Schritt, einen Abgeordneten ins Parlament zu schicken, jedoch schrieb es dieses Recht „nicht obligatorisch” vor. Im Jahre 2002 verabschiedete der Sabor ein Nationalitätengesetz, wonach diese Vertretung für die Minderheiten und den Sabor verbindlich ist: Es bestimmte eine Mindest-Präsenz, wie im rumänischen Wahlsystem, aber schließt eine größere Fraktion der Minderheitenorganisationen nicht aus, trotzdem sind diese Wähler zu einer Doppelwahl nicht berechtigt. Nach einer langen Debatte bezüglich der Problematik der serbischen Minderheit in der Zeit des serbisch-kroatischen Krieges (erste Hälfte der 1990er Jahre) maximalisierte der Gesetzgeber die Zahl der Sabor-Abgeordneten der Nationalitäten in fünf Personen (insgesamt): Solche Minderheiten konnten wählen, deren Anteil weniger als 8% beträgt. In der nächsten Phase wurden diese Verhältnisse gewissermaßen konsolidiert: Nach der heutigen Zusammensetzung des Sabors verfügen die Serben (die größte Minderheit Kroatiens) über drei Abgeordnete, die zweitgrößte, die Italiener, über einen, die Madjaren werden durch einen Abgeordneten repräsentiert. Weitere Minderheiten wie die Deutschen, Bulgaren und Romani haben sogenannte „gemeinsame Vertreter”: Zum Beispiel ist der Abgeordnete Veljko Kajtazi das Sprachrohr der Österreicher, Deutschen, Polen, Roma, Russen, usw. gleichermaßen. Erwähnenswert ist, dass die Deutschen und die Österreicher in diesem System voneindander getrennt sind, welche Besonderheit auf geschichtliche Gründe zurückzuführen ist. Der parlamentarische Corps der Minderheiten ordnet sich in eine moderne und innovative Kommission des Sabors, namentlich in die Kommission der Menschen- und Nationalen Minderheitenrechte ein: Sie ist nicht nur ein Organ der Abgeordneten, sondern sie arbeitet auch mit Experten, Professoren aus dem Minderheitenbereich zusammen. Auch im kroatischen System besitzen die kroatischen Diasporen Plätze, jedoch im Gegensatz zum rumänischen nicht nur einen, sondern gleich drei.

Im Vergleich zu den zwei vorigen Fällen ist das slowenische Beispiel ein Schwarzer Peter in jeder Hinsicht. Slowenien erlebte eine ähnliche historische Entwicklung wie Kroatien (da sie beide Mitgieder in der jugoslawischen Föderation waren), aber trotzdem beschritt es – auch hinsichtlich der Minderheitenrechte – einen anderen Weg. Die Geburtstunde des neuen slowenischen Grundgesetzes war bereits in den letzten Jahren der 1980er Jahre, und letzendlich wurde sie 1991 vom Parlament angenommen. In dieser Verfassung spielt nur das slowenische Volk die Hauptrolle, also als Träger der Souveränität und Staatsgewalt, dessenungeachtet erscheinen auch zwei Minderheiten in Form eines Kapitels: die Italiener und die Madjaren, die zwei deklarierten autochtonen Minderheiten. Es gibt naturgemäß mehr, zahlenmäßig kleinere ethnische Gruppen in Slowenien, aber die Gesetzgebung behandelt die Kategorie „autochton” rigoros. Kurz hinter den Madjaren und Italienern wird im Text ebenso festgelegt, dass der slowenische Staat auch die Sache der Auslandsslowenen der Nachbarstaaten vor Augen führen soll. Auf diese Weise ist die parlamentarische Vertretung der Madjaren und Italiener im slowenischen System unter den 90 Abgeordneten gesichert, nebenbei regelt Slowenien die Frage auch auf der Ebene der Selbstverwaltungen (Kommunalwahlen z. B.). In letzer Zeit wurde ein neuer Vorstoß in Form eines Arbeitsplanes gestartet, der eine größere Anerkennung der anderen Minderheiten zum Ziel setzte.

Auch bis heute haben wir zahlreiche Rückstände hinsichtlich des Schutzes der Minderheitenrechte zu beobachten, nicht nur welt-, sondern europaweit, es reicht, wenn wir die fehlenden Verordnungen der Vereinigten Nationen erwähnen, jedoch unsere Region, die eine reiche, manchmal blutige Erfahrung in der Angelegenheit der Nationalitäten, Minderheiten sammelte, erkannten die ostmitteleuropäische Länder ganz früh, fast sofort nach dem Untergang der kommunistischen Vorherrschaft die Notwendigkeit der parlamentarischen Vertretung, so dass wir 2018 die parlamentarische Präsenz der Minderheiten eine regionale Praxis bezeichnen dürfen, die langsam in meisten Ländern Ostmitteleuropas zu einem unmissverständlichen Teil der Demokratie und des Parlamentarismus wird.

Folgen Sie uns in den sozialen Medien!

Spende

Um unsere Qualitätsarbeit ohne finanzielle Schwierigkeiten weitermachen zu können bitten wir um Ihre Hilfe!
Schon mit einer kleinen Spende können Sie uns viel helfen.

Beitrag teilen:​
Geben Sie ein Suchbegriff ein, um Ergebnisse zu finden.

Newsletter

Möchten Sie keine unserer neuen Artikel verpassen?
Abonnieren Sie jetzt!