von Hans Christ
Vom Bleyer-Bild der damals jüngeren Generationen
Dorfjugend und Staatsjugendorganisation Levente
Zunächst möchte ich für jüngere und nichtungarndeutsche Leser hier noch einmal anmerken, dass Bezeichnungen wie »Junge Generation« oder Jugend als eigens anzusprechende Zielgruppe in jenen Jahren so gut wie unbekannt waren. Man verließ mit dem 12. Lebensjahr die Schule, ging noch hie und da in die Wiederholungsschule und wurde mit jedem Jahre stärker in den Arbeitsprozess des ländlichen bäuerlichen Lebens eingespannt. Es gab auch noch keine Jugendschutzgesetze, sondern nur die traditionellen Rücksichtnahmen, die jedoch recht verschieden angewandt wurden, je nachdem ob die Eltern reich oder arm waren. Je karger der Lebensunterhalt, umso drückender die Arbeitsbelastungen. Man sagte »Ihr« zu Großeltern, Eltern und älteren Dorfbewohnern, hatte unter ihnen zu schweigen und zu warten, bis man gefragt wurde, und eine eigene Meinung gar zu politischen Vorgängen zu haben, durfte man erst, wenn man verheiratet war. Jugend war dazu da, um so schnell als möglich erwachsen zu werden. Ihre spezifische »Eigenfreiheit« war die Gasse, die Spinnstube, die Gestaltung der Feste wie Kirchweih, Hochzeiten und Fasching. Das W i e war aber auch da weitgehend durch Sitte und Brauchtum geregelt. Bücher und Zeitung lesen wurde bestenfalls geduldet. War man reich, war die Toleranzspanne etwas größer. War man arm, wurden Beschäftigungen mit Bildung, Büchern, Zeitungen als ungehörig gescholten.
So waren es bei einem jeden Schulabgangsjahrgang jeweils nur 3 bis 4 von den Burschen, die Anschluss an Fortbildungsmöglichkeiten suchten. Von den zwei Klassen vor mir und den zwei Klassen nach mir hat sich kaum eine für ein Buch oder eine Zeitung interessiert. Bei den Mädchen war die Durchbrechung des Gesetzes »Bauern tun so etwas nicht« noch seltener. Versucht man also dem Verhältnis Jakob Bleyers zur jüngeren Generation auf die Spur zu kommen, dann muss man unterscheiden zwischen den paar Dutzend Studenten und jener kleinen Elite von Bauernburschen und Mädchen, die in den Jahren 1924, dem Gründungsjahr des UDV und 1933, dem Todesjahr Jakob Bleyers zu seinen Getreuen zählten. Man merkte sich einige Namen von denen, die schwache Verse schrieben oder in Berichten über Veranstaltungen des UDV erwähnt wurden. Auch solche, die Rätsel richtig gelöst hatten und mit Büchergeschenken bedacht wurden.
Bei Ansprachen der Sekretäre des UDV waren höchstens ein paar junge Leute als eine Art »Zaungäste« anwesend, wie bei anderen Veranstaltungen politischen Charakters auch.
1926 wurde im damaligen Ungarn die Staatsjugendorganisation Levente ins Leben gerufen. Neben der Aufgabe einer vormilitärischen Erziehung zum Zwecke einer Wiederherstellung Großungarns hatte sie auch den Auftrag, die anderssprachigen Nationalitäten Rumpfungarns zu einer einheitlichen Nation zusammenzuschweißen.
Ich selbst musste noch in den letzten Monaten des 6. Schuljahres allsonntäglich von 14 bis 18 Uhr ausrücken, ausgerüstet mit einem Holzgewehr. Dazu kam auch die Pflicht, in geschlossener Formation den Gottesdienst zu besuchen. Wenn Jakob Bleyer sich in seinem bekannten Aufsatz »Rahels Klage- lied« im Sonntagsblatt vom 20. November 1932 darüber beschwert, dass die Beschäftigung in den Kindergärten der deutschen Dörfer ausschließlich in madjarischer Sprache erfolge, dass die Jungmänner der LeventeOrganisation in Gottesdienste geführt werden, in denen Gesang und Predigt in madjarischer Sprache erfolge, so traf dies auf meine Heimatgemeinde nicht zu. In unserem Sommer-Kindergarten (Juli und August) wurden Kinderlieder und Spiele in der Muttersprache gelehrt. Nur vereinzelt auch etwas ungarisch, und wir Jungmänner als Levente nahmen am normalen Gottesdienst in unserer evangelischen Kirche teil, in dem Lied und Predigt deutsch waren wie immer. Die Kommandosprache der Levente war selbstverständlich ungarisch, doch es wurden mehr deutsche als ungarische Lieder gesungen, und die Unterrichts- und Umgangssprache war deutsch. Dies schon darum, weil die Instrukteure kaum ungarisch konnten und wir Jungmänner auch nicht. Immerhin merkte man damals schon bei der Teilnahme an den Wettstreiten in anderen Dörfern und in der Bezirkshauptstadt, dass das, was bei uns noch selbstverständlich war, in anderen Dörfern ganz anders ist. Ich selbst musste aus der offiziellen Zeitschrift der LeventeFührung die Aufsätze zur »Politischen Bildung« (so würde man heute sagen) abschreiben, denn die Zeitung musste nach Gebrauch an andere Orte weitergegeben werden. So armselig war sogar auch diese Ausstattung mit Gedrucktem.
So erfuhr ich, mittlerweile ja schon älter und verständiger geworden, dass es bei den Leventen doch in erster Linie darauf ankam, sich an der nationalen Aufgabe Nr. 1, der Assimilation der Nationalitäten zu beteiligen, dass aus all den Völkerschaften Ungarns endlich die eine Nation entstehe, getreu dem Motto: »Was wir durch den Friedensvertrag von Trianon nach außen verloren haben, müssen wir nach innen gewinnen, durch Assimilation.« Diese Madjarisierungs-Kampagne auf breitester Front war durchaus nicht die Marotte einiger Hitzköpfe, sondern an ihr mussten sich Lehrer, Gemeindesekretäre (Notare), Levente-Instrukteure, Mühlenkontrolleure, Straßenräumer usw. alle beteiligen. Die Konflikte, die Jakob Bleyer im Parlament und in den Zeitungen zunehmend zu bestehen hatte, hatten also ihre Entsprechung auch in den Dörfern. So vermehrte sich von Jahr zu Jahr auch die Zahl derjenigen unter den Jugendlichen, die nicht mehr nur gelegentliche Zaungäste beim UDV und seinen Veranstaltungen waren, nicht nur die Rätselecke im Sonntagsblatt ansahen, sondern sich auch schon ab und zu deutlicher zu Wort meldeten.
Man ging wenigstens geistig aufeinander zu, lernte sich dann auch bei Musikwettstreit und Schwabenball näher kennen, und so darf ich jetzt nicht mehr nur von »meinem Verhältnis zu Bleyer« sprechen, sondern von dem Verhältnis der damals jüngeren Generation, die sich hauptsächlich aus den Jahrgängen 1913 bis 1916 rekrutierte. Organischer ist wohl selten eine Variante der Jugendbewegung gewachsen.
Fazit
Thesenhaft sei hier aus heutiger Sicht einiges zu den Generationen der damaligen Zeit angemerkt.
1. Jakob Bleyer hatte es bei seinem Eintritt in die volksdeutsche Bewegung Rumpfungarns fast immer mit Jüngeren zu tun, die seine leiblichen Söhne hätten sein können. (Die Periode der Gärung zwischen 1918 und 1921 s. Beitrag von Spiegel-Schmidt, sei hier ausgeklammert; die Zeitgenossen, für die ich aus Mit-Erfahrung zeugen kann, wussten von ihr nichts!) Die aktivsten Mitarbeiter am Sonntagsblatt und im UDV gehörten fast alle den Jahrgängen 1898 bis 1903 an. Ausnahmen bestätigen diese Regel.
2. Ebenso kamen die aktivsten Stützpunkt- und Ortsgruppenleiter des UDV weitgehend aus diesen Jahrgängen. Bleyer war — wie bekannt — Jahrgang 1874. Die wichtigsten Provinz-Akademiker, die sich als aktive Vorkämpfer der volksdeutschen Sache betätigten, waren damals durchaus junge Generation. Das Bleyerbild, welches wir damals j ü n g st e n übernahmen, wurde weitgehend durch diese, um ca. 15 bis 16 Jahre älteren geprägt. Unser Bleyer-Bild entstand positiv durch die erwähnten Provinz-Akademiker, negativ durch die Verleumdungen, Beschimpfungen und Hetz-Kampagnen der Dorf-Intelligenz und der Gendarmen.
3.Persönlich haben Bleyer nur sehr wenige meiner Generation zu Gesicht bekommen. Er gründete kaum Ortsgruppen, hielt kaum Ansprachen in unseren Dörfern. Die meisten jungen Menschen sahen ihn wohl in seinem Wahlkreis Villány/Wieland, bei Schwabenbällen in Budapest und bei Musikwettstreiten, die aber nur alle zwei Jahre stattfanden. Ich selbst sah ihn nur ein einziges Mal beim Musikwettstreit in Tevel / Tolnau im Jahre 1932. Da die Musikwettstreite jeweils an Sonntagen abgehalten wurden, waren der Teilnahme der männlichen Jugend Grenzen gesetzt. Man wurde vom Levente-Dienst nicht freigegeben, ging dann eben ohne Erlaubnis und hatte mit erheblichen Schikanen oder Strafen zu rechnen. Die bereits großjährigen Männer sahen ihn, wenn auch in beschränkter Zahl, bei den alljährlichen Generalversammlungen in Budapest.
Mitglied des UDV konnten ja nur Großjährige (24. Lebensjahr) sein. Wer jünger war, bedurfte der Erlaubnis des Vaters oder Vormundes, die schriftlich vorzulegen bzw. der Beitrittserklärung beizufügen war.
4. Versucht man, sich vorzustellen, dass Jakob Bleyer eine Bestandsaufnahme über die Lage des Deutschtums in Rumpf-Ungarn gemacht hätte, bezogen auf die Zeit zwischen 1924 und 1933, wäre es für ihn wohl sehr schwer gewesen, von einer allgemeinen Situation auszugehen. Zufriedenstellende oder alarmierende Zustände hingen davon ab, ob man in einem evangelischen oder in einem katholischen Dorfe wohnte. Ob man in Westungarn, den Kerngemeinden der Schwäbischen Türkei oder in der Schomodei oder im Bakony ansässig war, schließlich auch davon, ob man junge oder alte Lehrer und Pfarrer hatte.
5. Als langsam die Tuchfühlung zwischen den einzelnen Siedlungsgebieten zustande kam, weniger durch Besuchsmöglichkeiten als durch die Lektüre des Sonntagsblattes, hatte man das Gefühl, dass es in den noch intakten Dörfern um Wahrung ihres kulturellen Besitzstandes ginge, anderen jedoch um dessen Wiedergewinnung. Um zeitgemäße Pflege ging es jedoch allen, zumal etwa um 1932/33 eine Fülle von Problemen auftauchte (Berufsfortbildung, Genossenschafts- und Sozialwesen usw.), welchen ohnehin nicht mehr mit einem »Kulturverein für Großjährige« beizukommen war.
6. Die entscheidenden Jahre für diesen »Gärungsprozeß« waren die erwähnten Jahre 1932 und 1933. Der Aufsatz »Rahels Klagelied« und die große Rede und Deklaration Bleyers im Mai 1933 leiteten eine Wende ein.
– Als wir damals 18 oder l9jährige die Nachricht über den Tod Jakob Bleyers erfuhren, entstand eine Verzweiflung, und was wir dann über sein Begräbnis erfuhren, erinnerte mit heutigen Augen gesehen – an die Schilderung des Begräbnisses von Theodor Herzl in Wien 1904. Bleyer verstarb am 5. Dezember 1933 und wurde am 8. Dezember auf dem Kerepeser Friedhof zu Budapest begraben. Im »Képes Pesti Hirlap« (eine ungarisch geschriebene Illustrierte), die mir unser Kaufmann ausgeliehen hatte, sah ich dann die Bilder, stand damals wenigstens im Geiste am Grabe Jakob Bleyers.