mein (ungarn-)deutschtum – Stefan Pleyer

Von Stefan Pleyer

Mein ungarländisches Deutschtum – ein Sonderweg zur Identität

Einem jungen Mann ist es selbstverständlich, sich früher oder später auf den manchmal scholligen Weg der Identitätssuche zu begeben. Natürlich auch wir, Jugendliche, versuchen dazu den richtigen Pfad zu finden, wo am Ende uns selbst finden können. Ein weiser Mann sagte: „Solum Ipsum”– das bedeutet: völlig mir zu sein, im Sinne der Metaphysik, auf diese Weise erfüllen wir unser wichtigstes Ziel während unseres Seines.

Obwohl ich diese Mahnung nicht wirklich beherzigt habe, streb te ich bereits in meinem Kindesalter danach. Meine erste solche Erinnerung ist datiert auf mein 9. Lebensjahr, damals besuchte ich die dritte Klasse der St. Emmerich Katholischen Grundschule in meiner Heimatstadt Ratzenmarkt (ung. Ráckeve, Komitat Pesth). Dieser Jahrgang gilt als bedeutungsvoll für die kleinen Schüler, weil der Lehrplan in dieser Zeit um solche Fächer ergänzt wird, die den Grundstein für die Identität der Kinder legt, ich meine damit vor allem das Lesen. Ein Pfeiler von meiner Persönlichkeit stand durch meine Priester-Lehrer auf festem Fundament: Gottgläubig und katholisch wurde ich erzogen, die Basis meiner Weltanschauung war entstanden, woran ich heute auch noch festhalte. Einmal kehrte ich von der Schule heim, und wie alle Kinder, begann ich aus irgendwelchem Grund den Wohnzimmerschrank durchzuwühlen. Sofort fand ich eine kleine braune Kiste, worin sich alte Dokumente, Papiere mit Schnörkelschrift versteckten. Irgendwie konnte ich sie doch buchstabieren: T-a-u-f-s-c-h-e-i-n, B-u-r-g-e-n-l-a-n-d, unter diesen waren die Fotos von meinen Großeltern aus ihrer Jugendzeit – ich zog die Konsequenz, dass diese sicherlich aus einer fremden Zivilisation stammenden Schreiben zweifellos etwas mit unserer Familie zu tun haben. Ich befragte diesbezüglich meinen Vater, ich setzte mich hin, und er erzählte mir unsere Familiengeschichte geduldsam, wer wir eigentlich sind – diese Herkunftsgeschichte erfuhr er von den Großeltern, und sie ebenfalls von den Urgroßeltern: „Merk dir, Junge, wir sind Deutsche, und unsere Familie kam in der Zwischenkriegszeit aus dem österreichishen Burgenland, aber die Ahnen stammten aus Bayern, welches Land sie wegen ihrer Religion verlassen mussten.”

Von diesem Moment an wurde alles anders, die Deutungsrahmen wurden stark umformiert – die brandneuen Informationen machten mich vollmotiviert. Zu meiner Heimatstadt Ratzenmarkt habe ich keine enge Verbindung, meine Eltern kamen aus Budapest, wo das „deutsche Element” relativ verbreitet ist. Viele deutsche Dörfer befinden sich in dieser Gegend wie Sankt Martin, Wetsch oder Ujfluch-Ratzenmarkt. Aus diesem Grund war mir die deutsche Abstammungsgemeinschaft weder in der Schule noch im Gymnasium fremd, jedoch genoss ich in den Augen meiner donauschwäbischen Klassenkameraden einen Sonderstatus: Sie zählten laut Schülersprache zu den „Schwaben”, aber man typologisierte mich als „einen Deutschen” oder „ Österreicher”. Zum Beispiel trug ich in der Grundschule eine schwarze russische Uschanka-Mütze wie mein Vater: Die anderen hatten keine Ahnung, was für eine Kopfbedeckung dies sein soll, so nannten sie das einfach „deutsche Mütze”, weil ich sie trug.

Auch meine Erziehung verstärkte diesen Sonderstatus: Durch meinen Vater und meine Großeltern bin ich in einer Bürgerfamilie, in einer intellektuellen Welt, aufgewachsen, was zur Schaffung meines Selbstbildes wesentlich beitrug. Meine Eltern wollten um jeden Preis einen Intellektuellen aus mir machen: einen Universitätslehrer oder solchen, der die Rechtsanwaltskanzlei meines Vaters weiterführt. Das Familienleben verlief zwischen Bücherregalen, die mit Werken von antiken Denkern, Schriftstellern beladen war. Ein konkretes Ereignis ist in Erinnerung geblieben: Mein Vater schrieb einmal das altgriechiche Epitaph der Lakonier von Simonides in mein Geschichtsheft. In dieser Zeit, als ich 10–11 war, entschloss ich mich, Historiker zu werden.

Nach der Grundschule und nach dem Sakrament der Firmung gewann in der Gymnasialzeit meine Identität einen neuen Baustein hinzu. Vor meiner Geburt und auch heute noch hängt das historische Wappen des Ungarischen Königreichs neben dem Kru zifix und dem Bild meiner Urgroßeltern, also die Treue zum Vaterland war in meines Vaters Weltbild schon immer präsent. Ehrlich gesagt, wurde ich am Endre-Ady-Gymnasium ein richtiger Hungarus. Mein Lieblingsfach war damals Ungarische Literatur und Grammatik (neben Geschichte). Ich stand auf und ging ins Bett mit Babits-Bänden, führte ein aktives literarisches Leben: Die ersten Artikel in den lokalen Presseorganen, Buchrezensionen in den Jahrbüchern des Gymnasiums, usw. Leider hatte ich nicht das Glück, während meiner Schulzeit Deutsch zu lernen: Pro forma fand man Deutsch unter unseren Fächern, aber anstatt ernst zu lernen, ging es um Fußball und Spiel, und die Lehrkraft investierte keine Energie in den Unterricht – aber außerhalb der Schule sprach ich mit meinem Vater seit Jahren schon Deutsch. Die Muttersprache meines Vaters ist glücklicherweise die „Lingua teutonica”: Er konnte das Ungarische erst in der Grundschule beherrschen, so auf diese Weise bekam ich diese besondere Haussprache unserer Familie aus erster Hand mit, die deren Hörer rätselhaft anspricht: Fremde Ohren halten sie eindeutig für Österreichisch, aber die Hauptwörter und die Grußformel zählen zur heanzischen Mundart. Es macht das Bild noch komplizierter, dass ein paar von unseren Ausdrücken norddeutsch ist, wie ich es erfahren habe.

Das kleine Universum von Ratzenmarkt, welches zuvor beherrschend war, wurde durch den Eintauchen ins Universitätsleben in Budapest vollkommen ausgeweitet. Kurz nach der Aufnahme meines Studiums entdeckte ich einen gewissen Verein Deutscher Hochschüler im Internet, der eine so genannte „Studentenverbindung” sein sollte. Auf den ersten Blick verstand ich das nicht: ungarndeutsch, Wappen, doch bürgerlich, donauschwäbisch, und diese gehen Hand in Hand – ich war sehr gespannt auf sie. Nach mehreren Treffen, Gesprächen trat auch ich in den Verein ein, und wurde ein VDH-ler. Das war eine meiner besten Entscheidungen in meinem Leben, weil diese Verbindung als eine Vorstufe für die Schaffung der künftigen Budapester Jugendorganisation diente: Da lernte ich meine Freunde, Mitarbeiter kennen, dementsprechend fand ich in Form des VDH erstmal eine richtige ungarndeutsche Gemeinschaft.

Auch die ersten Schritten der Pionierarbeit für die GJU BP geschahen im Rahmen des VDH. Mit mancher Skepsis, aber gleichzeitig mit Freude nahmen wir die gesellschaftliche Jugendarbeit auf: Wir gründeten unseren eigenen Freundeskreis in der Haupstadt, knüpften wichtige Kontakte, damit auch ein passendes, landesweites Netzwerk entsteht. Eigentlich habe ich die Quintessenz des Schwabentums durch die GJU kennen gelernt. Je mehr ich an schwäbischen Veranstaltungen teilgenommen habe, desto stärker war das Gefühl in mir, dass ich eine eigene Minderheit in der Minderheit bin: lustige dörfliche Feierlichkeiten, Mulatschagen, Schwabenbälle und Volkstrachten machen mehrheitlich diese Identität aus. Das Treffen mit Großmüttern der anderen illustrieren am besten meine Verwunderung – vor jedem erscheint das allegorische Bild der schwäbischen Oma: vom Dorfe, ein Familienmensch, spricht die Mundart, kocht besser als manch ein Meisterkoch. Ich war nur acht, als meine Böhm-Großmutter gestorben ist – sie war der vollkommene Gegensatz des vorigen Typs: eine Ofner Dame, aristokratisch, kühl-distanziert, die sich oft mit der österreichischen adligen Abstammung brüstete (einer von unseren Vorfahren diente als Offizier in der k. u. k. ArcièrenLeibgarde unter Maria Theresia, der quasi ein Vorbild in unserer Familie ist).

Alles motiviert mich, meinen eigenen Weg zu gehen, und in der ungarndeutschen Gesellschaft unsere Besonderheit zu bewahren. In diesem langen Weg, infolge verschiedener Aktionen und Reaktionen, folge ich einem Identitätsmuster, nach dem ich mich in der Welt orientiere – ich halte es für einen Beurteilungsmaßstab, für einen sicheren Kompass im Alltag. Das ist weder Leiter noch Stiege, lieber ein Xylophon: Es gibt keine Hierarchie unter den Holz scheiten, alle sind auf der gleichen Stufe, alle bilden Teile des Intruments, welche unikal klingen. Das obere Register meines Xylophons beginnt mit meinem Christentum, dies ist die universalste Anschauung in meiner Deutung: Ich treffe auf Brüder unter den koptischen Christen in Ägypten sowie im russischen Novgorod. Danach kommt meine westliche Daseins-Deutung, im spenglerisch-huntigtonischen Sinne – ich zähle mich ohne Zweifel zu dem westlichen Kulturraum, deswegen finde ich den gemeinsamen Nenner sowohl mit litauischen Bauern wie auch mit amerikanischen Professoren: klassische Kultur, Christentum, Einfluss der Aufklärung und noch weitere kulturelle Gemeinsamkeiten einigen uns. Ich lese die Gedichte von dem kroatischen Ivan Gundulić, wie die Stücke Walt Whitmans. Mein Europäertum vereinigt die oben Erwähnten, auf politisch–geopolitischer, wissenschaftlicher Ebene basieren meine Gedanken auf dem Ideal von Karl des Großen. Meine universale, kontinentale Identität schließt sich mit dem Katholizismus zusammen: Mein Gebet flattert von Wien aus an die gleiche himmlische Macht wie von Reims aus. Das Osteuropäertum bedeutet für mich schon einr Partikularisation in seiner regionalen Natur: Wohl bekannte historische Eigenheiten wie die Habsburgermonarchie, die halb-periphäre Attitüde, und die noch mit uns lebenden gesellschaftlichen, seelenkundlichen Phantome des Staatssozialismus unterscheiden uns, Ungarndeutsche (Halbperipherie), von den Bundesdeutschen (Zentrum). Mei ne deutsche Identität behümt sich, über diese Cleavage-Linie Brücken zu bauen. Vor allem bin ich Kulturverbraucher der deutschen Kultur, die Geschehnisse der Welt, die Geschichte, die Politik betrachte ich zuerst unter „deutscher Lupe”, aber nicht nur dadurch.

Dieses Deutsch-Bild wird um eine eine oberdeutsch–süddeutsche Subidentität verfeinert, und da trifft sich mein ungarländisches Deutschtum mit meinem Hungarus-Wesen. Ich definierte das Ungartum nie als eine Frage der Rasse oder des Blutes, sondern ganz im Gegenteil: Das Fundament meines Ungartums ist die bedingungslose Treue zum historischen Apostolischen Ungarischen Königreich, heute zum ungarischen Staat. Das Nationalitäten gesetz 1868 formuliert es am präzisesten: „Wir, die Nationalitäten Ungarns, sind Staats- und Verfassungspatrioten, unter der Beziehung zu dem Land versteht man historische und rechtliche Kategorien. Wir, Deutsche, als Staatsbürger, bekennen uns zu den Ungarn, den anderen Völkern, aber innerhalb des Landes gehören wir zum Deutschtum.” So rief der berühmte Pressburger Germanist, Karl Julius Schröer, in seinem Gedicht, in der Sprache der Westungarndeutschen:

An Unger pin i, dess is rain, Lassts mi a daitscher Unger sain

– diese Einstellung war/ist wohlbekannt bei den Slowaken (Uhors ko/Uhersko) und den Kroaten (Ugorska/ Mađarska, wie es in der kroatischen Literatur des 17. Jahrhunderts vielmals dargestellt wurde) auch – wir, Deutsche, Madjaren, Slowaken, Kroaten, Serben bauten gemeinsam im Laufe der ganzen ungarischen Geschichte dieses Vaterlands auf, worauf wir stolz sein müssen. Diese Identität ist aber nicht doppelt: Es geht um Land und Volk. Schröer fährt so fort:

Madjar, Schlowack, Gebts hear di Hand Hald ma nea zsamm brav da in Land! Legts mer mai Red niid übel aus: ‘S blaibt unter uns miar sann ja z’Haus

Es ist leicht zu beurteilen, dass das Credo mit dem Bleyerischen Geist übereinstimmt, aber auch das Beispiel von Schröer spornt mich an, das ungarländische Deutschtum als eine historische Schick salsgemeinschaft im karpatenländischen Rahmen zu begreifen: Wir können die Geschichte, die Gegenwart unserer Volksgruppen ohne den anderen nicht verstehen. Historische Logik ordnete die Niederlassungen, die Landschaftsgestaltung und die Kulturschaffung: Ohne Deutsch-Westungarn gibt’s keine donauschwäbische Geschichte, mangels Pressburg, Bartfeld, Hermannstadt und Temeswar würde die ungarländische deutsche Kultur viel ärmer.

Mein ungarländisches Deutschtum ist ja Minderheit in der Min derheit, auch wegen meinem bürgerlichen Selbstbild. Gab es bei uns einst in der Heanzerei irgendeine Volkskultur, dann versank sie in die Vergangenheit, niemand kann die Tradition weiterreichen: traditio (lat.)-Übergabe. Jedoch ist das Kennenlernen der Kultur der Vorfahren eine sehr wichtige Aufgabe für die Zukunft, die unsere Landsleute erfüllen müssen. Wir dürfen am so genannten ungarischen ländlich–urbanen Streit nicht teilnehmen, was nur Barrikaden zwischen unseren Leuten errichten kann: Die „Flamme” der deutschen Volkskultur muss gepflegt werden, aber damit wäre es notwendig, den Geist des meinungsformierenden, deutschen Bürgertums in Ungarn zum Leben zu erwecken, nur so können wir vollständig sein.

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